Gefahren beim Umgang mit digitalen Medien Leitfaden Digitale Medien

Stress mit sozialen Kommunikationsmedien

Die im Frühjahr 2017 erschienene JIM-Studie (12) zeigt, dass die Nutzung mobiler Digitalgeräte und entsprechender Kommunikations-Apps bei Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 19 Jahren weiter ansteigt.

Die Anwendung WhatsApp nutzen 95% der Jugendlichen, gefolgt von Instagram (51%) und Snapchat (45%) sowie Facebook (43%). Diese elektronischen Helfer sind fest im Kommunikationsalltag der jungen Menschen verankert. Die Nutzungsdauer beläuft sich von ca. 2,5 Stunden bei den 12-13-jährigen, über gut 3 Stunden bei den 14-15-jährigen und bis auf knapp 4 Stunden bei den 16-19-jährigen täglich.

Der Zugewinn an Kommunikationsfreiheit, ständig und überall erreichbar zu sein, bedeutet Segen und Fluch zugleich. Zunehmend klagen die Jugendlichen über Kommunikationsstress (vgl. Sinus-Studie: http://www.wie-ticken-jugendliche.de/), verursacht u.a. durch bis zu 3000 WhatsApp-Nachrichten monatlich, die gelesen und geschrieben werden (13). Auch laut einer Studie im Auftrag der Landesmedienanstalt NRW 2015 fühlen sich 120 von 500 befragten Kindern und Jugendlichen zwischen 8 und 14 Jahren (d.h. 24%) durch die permanente Kommunikation über Messenger-Dienste wie WhatsApp gestresst (1, 11). 240 von 500 (d.h. 48%) geben zu, durch das Handy abgelenkt zu werden, etwa von den Hausaufgaben.

davidpereiras / photocase.de

Immer mehr Jugendliche unterliegen diesem Diktat der kontinuierlichen Kommunikation, den unausgesprochenen und unhinterfragten Forderungen, gleich zu reagieren, wenn es klingelt – und das beginnt gleich nach dem Aufstehen und reicht bis spät in die Nacht. Der soziale Druck der Peergroup mit seiner scheinbar unumgänglichen Verpflichtung zu ständiger Erreichbarkeit und ständiger Reaktionsbereitschaft bedeutet einen hohen Kommunikationsstress. Umgekehrt löst ein Verzicht auf ständige Kommunikation ein Gefühl von sozialer Isolation und Vereinsamung bei diesen Jugendlichen aus: Fomo, Fear of Missing Out (Angst, etwas zu verpassen), wird dieser neue Stresszustand genannt.

Nach einer Studie des Smartphone-Herstellers Nokia nutzen junge Menschen täglich bis zu 150-mal ihr Smartphone. Wenn täglich 100 Nachrichten gelesen und beantwortet werden müssen, kann eine praktisch permanente Nutzung der Kommunikationsmedien nicht ohne Wirkung bleiben: Sie verleitet zwangsläufig zu häufiger Unterbrechung anderer Tätigkeiten (im Durchschnitt etwa alle 9 - 10 Minuten) und führt so zu andauerndem Multitasking (13).

Einfluss auf Kognition und Lernen

Multitasking zeichnet sich dadurch aus, dass ständig alles Mögliche gleichzeitig getan wird, was einen ständigen Wechsel der Aufmerksamkeit bedeutet und zu einem sog. Aufmerksamkeitsstress führt: Zum Beispiel macht ein Schüler, der seine Hausaufgaben am Computer erledigt, fast zwei Drittel der Zeit noch etwas anderes als Hausaufgaben.

Die Zeitdauer, die Jugendliche nur einer Sache widmen, nimmt durch Multitasking immer weiter ab. Erst jüngst hat Microsoft eine neue Studie veröffentlicht, die zeigt, dass die Aufmerksamkeitsspanne von 12 Sekunden im Jahr 2000 auf 8 Sekunden im Jahr 2013 gesunken ist. Damit ist die Aufmerksamkeitsspanne von Goldfischen mit 9 Sekunden sogar noch um eine Sekunde höher! Sinkende Aufmerksamkeitsspanne heißt: Fallende Konzentrationsfähigkeit! (13).

Multitasker trainieren sich geradezu eine Aufmerksamkeitsstörung an (14, 15): Sie haben größere Schwierigkeiten, einer irrelevanten Aufgabe nicht nachzugehen, also irrelevante Reize aus der Umgebung oder in ihrem Gedächtnis zu ignorieren. Der Effekt ist Oberflächlichkeit und Ineffektivität bei wichtigen Aufgaben und vor allem auch beim Lernen, da das Gehirn durch die hohe Reizdichte irgendwann ermüdet und seine Aufnahmefähigkeit erschöpft ist. Dadurch wird das Neugelernte nur noch eingeschränkt im Langzeitgedächtnis verankert: Denn zur Konsolidierung des Gelernten braucht das Gehirn Zeiten der Ruhe, die Multitasking nicht erlaubt.

  • Sprachkompetenzen verkümmern, ebenso wie haptische Fähigkeiten: Denn die eigenschaftslose Oberfläche eines Smartphones hinterlässt einen immer gleichen, strukturlosen haptischen Eindruck in unserem Gehirn. „Wenn wir etwas in der realen Welt berühren und bewegen, beeinflusst dies unser kognitives Vorstellungsvermögen mehr, als wir bisher angenommen haben.“ (Martin Korte, 2010, vgl. (16))
  • Auch das Lesen geht immer mehr zurück. Der Anteil der Nichtleser unter Kindern, die nie ein Buch in die Hand nehmen, hat sich nahezu vervierfacht: Er lag 2005 bei 7%, 2014 bereits bei 25%. Der höchste Anteil der Nichtleser mit 25% ist bei den 16 – 17-jährigen auszumachen, vor allem bei den Jugendlichen mit formal niedriger Bildung (12).

Befindlichkeitsstörungen

Neben den Wirkungen auf Konzentration und Gedächtnis zeigt sich Kommunikationsstress und Multitasking vor allem in Unruhezuständen, Nervosität, Gereiztheit und Kopfschmerzen, deren Häufigkeit in den letzten Jahren rasant zugenommen hat. Auch Schlafstörungen und Tagesmüdigkeit nehmen immer mehr zu: Sie können Folge einer bis in die Nacht hineinreichenden Kommunikation mit dem Smartphone sein. Weitere Befindlichkeitsstörungen sind nicht ausgeschlossen (Herzbeschwerden, irrationale Ängste bis hin zur Depression u.a.), die gerade auch durch die dauerhafte Mobilfunkbestrahlung ausgelöst bzw. verstärkt werden können.

Einfluss auf das Soziale

Eine Studie der BITKOM von 2014 (17) befragte über 1000 Jugendliche, in welchen Situationen Smartphone, Facebook & Co. nerven. Die Antworten zeigen, dass die Jugendlichen sehr wohl reflektieren, welchen Einfluss das Handy auf ihr Leben hat: Ein Junge schrieb: "Am meisten stört es, wenn ich müde bin und schlafen gehen möchte. Dadurch hab ich eindeutig zu wenig Schlaf." Und ein Mädchen sagte: "Eigentlich in jeder Situation, weil man ständig darauf schaut und unglaublich viel Zeit verloren geht." Häufigster Kritikpunkt ist, dass Freundschaften durch Smartphones gefährdet werden. So erklärte eine Teilnehmerin: "Meine Freunde verbringen mehr Zeit am Handy als mit mir. In dem Moment stellen sie das virtuelle Leben über das reale, obwohl nur das reale Leben die Erlebnisse und Gefühle schafft, an die wir uns später erinnern werden.“ (18)

coralie / photocase.de

Beatrice findet es unangenehm, dass beim gemeinsamen Ausgehen ihre Freunde nur noch mit den mobilen Endgeräten spielen: „Irgendwie sind alle abgelenkt, und es nervt, wenn ich alles dreimal erzählen muss, weil keiner mehr richtig zuhört. Nur meine Großeltern, die können das noch." Die hätten allerdings kein Handy.

Die unreflektierte Neigung, permanent online und allzeit reaktionsbereit zu sein, verändert das Leben der Jugendlichen und ihr Zusammensein mit anderen grundlegend: Das Handy wird wichtiger als das Gegenüber. Das Digitale verdrängt immer mehr das unmittelbare Soziale. Es kommt trotz aller Kommunikation zu einer sozialen Vereinsamung. Die (Neben-) Wirkungen dieser „Flucht“ in die virtuelle Kommunikationswelt sind bereits deutlich zu beobachten:

  • Die Fähigkeit der Jugendlichen verkümmert, soziale Signale angemessen zu interpretieren. Dies zeigt sich in einem Mangel oder gänzlichen Fehlen von sozial-empathischem Verhalten oder konstruktivem, sozialverträglichem Konfliktverhalten in der Peergroup. Eine Studie (19) der US-Psychologin Sarah Konrath ergab, dass die Empathiefähigkeit von College-Studenten seit 1990 um ca. 40% gesunken ist. Vorherrschend ist ein narzisstisch–egoistisches Kommunikationsverhalten verbunden mit einer gesteigerten Tendenz zur Selbstdarstellung (u.a. über Selfies und Likes).
  • Auch die Unverbindlichkeit nimmt zu: Während früher Verabredungen einmal getroffen und in der Regel auch eingehalten wurden, ist heute die persönliche Zeitplanung immer neuen Verhandlungen, Vereinbarungen und Umdisponierungen unterworfen. Treffen finden oft unter Vorbehalt statt.
  • Jugendliche müssen sich seltener etwas einfallen lassen, um ihre Freizeit auszufüllen. Treffen mit anderen, Sport, Lesen kommen zu kurz, da es viel einfacher ist, auf ein leicht zugängliches und kurzweiliges Medium wie Smartphone, iPod oder Xbox zuzugreifen. Individualität und Kreativität können dadurch verkümmern.

Worauf kommt es an?

Wenn Jugendliche viel Zeit im Internet verbringen, muss dies allein noch kein Grund zur Sorge sein, solange unmittelbare soziale Kontakte und Hobbys weiter gepflegt werden und die Schulleistungen nicht nachlassen. Die Sogwirkung der Nutzung digitaler Kommunikation und Unterhaltung darf jedoch nicht unterschätzt werden.

Immer mehr Jugendliche spüren die Unverhältnismäßigkeit: Sie mögen zwar nicht auf die digitale Kommunikation verzichten, zeigen sich aber von der hohen Taktung der eintreffenden Nachrichten genervt und verweigern sich dem Diktat der sofortigen Beantwortung. Sie wollen keine Sklaven der Schnelllebigkeit werden. Die Vorstellung, es sei dringlich, wenn das Handy klingelt, ist eine Zwangsvorstellung, ein Dilemma, aus dem die jungen Menschen häufig alleine nicht mehr herauskommen. Jugendliche müssen u.a. lernen, Gespräche auf die wesentlichen zu reduzieren. Sie müssen lernen bewusst zu steuern, was sie in ihre Köpfe hineinlassen.

arthurbraunstein / photocase.de

Was können Sie als Eltern tun? Suchen Sie das Gespräch mit Ihren Kindern und versuchen Sie, einen Ausgleich zwischen medialen und anderen Freizeitaktivitäten zu bewirken. Nicht zuletzt können hierbei auch technische Mittel - wie Zeitbegrenzungssoftware – helfen, eine angemessene Balance zu finden. Im Notfall müssen Sie allerdings professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.

Cyberkrank!
Autor: Manfred Spitzer
Veröffentlicht am: 02.11.2015
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iGen
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Veröffentlicht am: 22.08.2017
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