Warum dieser Leitfaden Gesund aufwachsen in der vernetzten Welt

Bei unseren Kindern die Erfahrung der analogen Welt stärken!

Das wünschen wir uns als Eltern: Unsere Kinder sollen lernen, mit Medien kompetent und risikobewusst umzugehen. Aber welche Entwicklungsschritte muss ein Mensch gegangen sein, um selbstbestimmt und souverän mit Geräten umgehen zu können? Und was können wir Eltern tun, damit wir nicht bei den Kleinen etwas „säen“, was wir später bei unseren Jugendlichen nicht „ernten“ wollen?

Ein Zurechtkommen in der analogen Welt ist grundlegend für das Zurechtkommen in der virtuellen Welt

Die neuen Bildschirmmedien tauchen nicht anstelle von Fernsehen und Videos im Leben der Kinder auf, sondern zusätzlich und vermehren die Zeit, die sie vor dem Bildschirm verbringen. Dies führt zu einer zunehmenden Verdrängung von Erfahrungen in der analogen Welt, die virtuelle Welt ersetzt immer mehr die analoge.

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In der analogen Welt jedoch haben die Kinder ihre leiblichen und seelischen Entwicklungsschritte zu vollbringen: Dazu gehört die Sprachentwicklung, die Ausbildung der Grob- und Feinmotorik, die Schärfung aller Sinne, das Erproben und Erkunden von Dingen und Vorgängen in der analogen Welt, das Lernen von Regeln im sozialen Miteinander und vieles mehr. Generell gilt daher: Mediennutzung wird schnell zum Problem, wenn ein Kind nicht mehr genügend Zeit für seine biologisch notwendigen Entwicklungsschritte in der analogen Welt hat.

Ein Beispiel: Wenn Ihr Kind zu wenig Gemeinschaft mit anderen Kindern erlebt, durch die es z.B. lernt, Bedürfnisse der anderen wahrzunehmen und zu berücksichtigen, können soziale Entwicklungsdefizite, z.B. mangelnde Empathie, entstehen.

Umgekehrt gilt: Wenn sich z.B. Ihr Kind beim Zusammensein mit anderen Kindern immer wieder abgelehnt und sich in seinen Bedürfnissen nicht berücksichtigt fühlt, kann der Austausch mit virtuellen Freunden über Facebook, WhatsApp und Co. als scheinbar vollwertiger Ersatz empfunden werden. Das kann bedeuten: Der Medienkonsum steigt.

Oder wenn Ihr Kind zu selten mit Freunden oder Eltern etwas unternehmen oder ausprobieren kann, ist die Gefahr groß, dass es versucht, seine Wünsche durch virtuelle Actionspiele oder Rollenspiele am PC oder Tablet zu erfüllen. Letztlich sind dies vergebliche und ungesunde Versuche des Kindes, seinen Bedürfnissen gerecht zu werden und seine Entwicklungsschritte zu bewältigen. Denn die Mediennutzung kann dabei schnell zum Problem werden, das heißt: Der Medienkonsum läuft aus dem Ruder.

Verstärkt wird dieses Verhalten noch durch das Suchtpotential, das vielen Anwendungen der digitalen Bildschirmmedien innewohnt. In erster Linie müssen Kinder körperlich und seelisch in der analogen Welt zurechtkommen, die immer die primär lebensbestimmende Welt bleiben wird.

Wir wissen heute: Erst wenn das Kind seine biologisch notwendigen Entwicklungsschritte in den verschiedenen Lebensabschnitten gut bewältigt hat, kann es die Fähigkeit zu einem kompetenten und sinnvollen Medienumgang entwickeln.

Worauf kommt es an?

Es kommt in erster Linie darauf an, Kindern vielfältige Möglichkeiten anzubieten, ihre Sinne zu erproben, ihren Körper zu bewegen, die Natur zu erkunden, mit ihren Mitmenschen zu kommunizieren, also die analoge Welt zu „erobern“. Wenn Ihr Kind ein Hobby hat, z.B. gerne Fußball spielt oder ein Instrument spielen lernt oder gerne etwas bastelt oder herstellt, dann ist ein Smartphone nicht so wichtig, denn es wird in dieser Zeit nicht genutzt oder höchstens als Hilfsmittel (z.B. für Bildaufnahmen). Dies schafft ein Gegengewicht zur virtuellen Welt und schützt Ihr Kind in natürlicher Weise vor ihren Risiken. Es ist also wichtig, dass Eltern versuchen, Ihr Kind für sinnvolle Aktivitäten in der analogen Welt zu begeistern. Dies ist die beste Grundlage für die Entwicklung von Medienmündigkeit im Jugendalter.

Eine immer frühere Nutzung digitaler Medien verhindert dagegen geradezu, was Kinder lernen müssen und was wir uns als Eltern wünschen. Kinder sind also vor der virtuellen Welt eher zu schützen, als sie mit dieser Welt früh in Kontakt zu bringen. Dies hat auch der Gründer von Apple, Steve Jobs, klar erkannt: Seine Kinder durften nicht mit dem iPhone, einem Smartphone aus seinem eigenen Unternehmen, spielen. Viele Eltern aus der IT-Industrie denken ebenso. Vgl.: http://www.nytimes.com/2014/09/11/fashion/steve-jobs-apple-was-a-low-tech-parent.html?_r=0 und https://www.weforum.org/agenda/2017/10/why-gates-and-jobs-shielded-their-kids-from-tech/

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Beim Umgang mit Medien sind Verabredungen und Regeln für Kinder und Eltern hilfreich und entscheidend

Viele Beobachtungen und wissenschaftliche Studien zeigen: Wenn Eltern die Mediennutzung ihrer Kinder ohne Vorbehalte akzeptieren, sie nicht begrenzen und aktiv gestalten, dann muss mit erheblichen Verhaltens- und Gesundheitsrisiken für unsere Kinder und Jugendlichen gerechnet werden. Dies belastet und schwächt die Familie, aber auch die ganze Gesellschaft (vgl. Kapitel 3 und 8). Denn die Fähigkeit, sich selbst Grenzen zu setzen und Bedürfnisse aufschieben zu können, ist bei den Jugendlichen erst im Werden. Grenzen zu setzen und Verabredungen zu treffen sind daher notwendige Schutzmaßnahmen für Ihre Kinder.

Insbesondere sollten Sie als Eltern Kleinkindern keine Nutzung ermöglichen oder erlauben. Im Idealfall sollten Kinder bis zum Alter von 12 Jahren ohne Smartphone, Tablet oder PC aufwachsen. Sie sollten zuerst ihre Kompetenzen bezüglich des realen („analogen“) Lebens stark ausbilden.

Es steht aber außer Frage: Wir können digitale Medien von unseren Kindern und Jugendlichen nicht fernhalten und dürfen sie mit den Einflüssen und Veränderungen, die diese bewirken, nicht alleine lassen. Durch die Medien und vor allem durch Freunde sind sie den Verlockungen der digitalen Bildschirmmedien permanent ausgesetzt. Daher kann es für Sie unabwendbar sein, sich zum Kauf eines Smartphones oder Tablets für Ihr Kind zu entscheiden. Da in diesem Fall ernst zu nehmende Risiken auf Ihr Kind zukommen, ist es verantwortungsvoll, wenn Sie Ihr Kind schützen und ihm daher frühzeitig klare Grenzen setzen, d.h. klare Regeln unter anderem darüber festlegen, wie lange Computer, Tablet und Smartphone pro Tag genutzt werden dürfen (Details dazu finden Sie in Kapitel 4.3, 5.3 und 6.3). Das erfordert von Ihnen ein gutes Einfühlungsvermögen in den Entwicklungsstand Ihres Kindes und viel Geschick in der Erziehung. Aber auch auf Ihr Vorbild kommt es an, wie in Kapitel 1.3 genauer ausgeführt wird.

„Im Kern bedeutet Grenzen zu setzen, Stellung zu beziehen. Es bedeutet, einen klaren Standpunkt zu haben und diesen zu vertreten. Mit liebevoller Konsequenz, Lob und Ermutigung. In fortwährender Auseinandersetzung mit sich selber und den Kindern.“

Saalfrank, 2006

Grenzen werden oft zu spät gesetzt

Grenzen erst dann durchsetzen zu wollen, wenn der Internetkonsum des Kindes überhand-genommen hat und vernünftige Zeiten weit überschreitet, führt unweigerlich zu schwierigen Auseinandersetzungen mit dem Kind und garantiert auch nicht, dass Sie sich durchsetzen können und das Kind seinen Internetkonsum in den Griff bekommt.

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Viele Pädagogen sind sich einig: Kinder wollen rechtzeitig(!) Grenzen und Regeln. Sie wünschen sich Klarheit, wollen wissen, woran sie sind. Grenzen geben Kindern Struktur, Halt und Sicherheit, fordern aber auch Auseinandersetzungen heraus. Fehlende Grenzen dagegen verunsichern und machen Kinder haltlos. Schon die Kleinsten brauchen Grenzen und sogar ein Baby versteht an den Reaktionen der Eltern die dahinterstehenden Regeln.

Grenzen finden – es gibt kein Patentrezept

Aufgabe der Eltern ist es, zu überlegen, was ihnen wichtig ist, welche Grenzen sinnvoll sind und wie sie sie durchsetzen wollen. Wenn Kinder rechtzeitig verstehen, was geht und was nicht geht, wird es später weniger Debatten geben und selbstverständlich für die Kinder sein. Grenzen können sich aber im Zusammenleben als unangemessen herausstellen und müssen daher immer wieder neu gefunden werden, nicht zuletzt, da die Kinder größer werden.

Das Setzen von Grenzen ist ein Prozess, der vom Alter des Kindes abhängt, der vor allem auf das achtet, was es in seiner augenblicklichen Entwicklung vornehmlich braucht, und der nachgeordnet von dem bestimmt sein sollte, was das Kind sich wünscht.

Kinder werden auf diese Weise viel besser einen selbstbestimmten und gesunden Umgang mit digitalen Medien entwickeln und vor den Risiken der digitalen Medien weitgehend geschützt sein.

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Was empfehlen Experten? Die 3-6-9-12 – Regel

Der französische Psychologe Serge Tisseron hat für die Altersstufen bis 3 Jahre, von 3 bis 6 Jahren, von 6 bis 9 Jahren, von 9 – 12 Jahren und ab 12 Jahren typische Entwicklungsschritte und entsprechende Empfehlungen für die Mediennutzung formuliert, die Eltern bei der Medienerziehung als erste Orientierung dienen können (vgl. https://www.3-6-9-12.org/).

Dieser Leitfaden folgt in vielen Punkten den Empfehlungen von Tisseron, unter anderem sollten bis zum Alter von 12 Jahren ausschließlich die Eltern bestimmen, welche Regeln bei der Mediennutzung einzuhalten sind. Gemeinsame Vereinbarungen mit dem Kind sollten erst später getroffen werden.

Grenzen und Regeln sind ein Kompromiss

Ein Aufwachsen ganz ohne digitale Medien und damit ohne ihre Risiken wäre das Beste vor allem für Kinder bis zum Alter von 12 Jahren. Dies wird von wissenschaftlichen Erkenntnissen klar unterstützt, aber von der Politik zu wenig berücksichtigt.

Wenn Sie es nicht schaffen, so lange wie möglich dem augenblicklichen Trend mit seinem gesellschaftlichen Druck auf die Familien zu widerstehen, kann es sein, dass Sie teilweise nachgeben und sich zu einem Kompromiss entschließen müssen. 

Alle Empfehlungen zur Mediennutzung in diesem Leitfaden sind in diesem Sinne Ausdruck eines vielleicht sinnvollen Mittelweges und verstehen sich als Notbehelf. Aber klar ist: Aus wissenschaftlicher Sicht schützen sie nicht vor den Risiken für die Gesundheit und für die biologische Entwicklung Ihres Kindes!

Kinder wollen rechtzeitig(!) Grenzen und Regeln. Sie wünschen sich Klarheit, wollen wissen, woran sie sind. Grenzen geben Kindern Struktur, Halt und Sicherheit, fordern aber auch Auseinandersetzungen heraus.

Kinder brauchen Grenzen
Autor: Jan-Uwe Rogge
Veröffentlicht am: 01.07.2008
272 Seiten
Nein aus Liebe
Autor: Jesper Juul, Knut Krüger (Übersetzer)
Veröffentlicht am: 22.02.2008
128 Seiten