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Gesund bleiben inmitten einer digitalen Welt - diagnose-media.org

Gesund bleiben inmitten einer digitalen Welt

Vortrag von Dr. Michaela Glöckler in Neckartenzlingen

150 Zuhörerinnen und Zuhörer begeisterte die im In- und Ausland gefragte Referentin mit ihrem freien Vortrag, zu dem die Initiative InfoMobilFunk in die Werkrealschule Neckartenzlingen eingeladen hatte.

Die 1946 in Stuttgart geborene Kinderärztin Dr. med. Michaela Glöckler praktizierte 10 Jahre als Kinder- und Schulärztin. Ab 1988 hatte sie die Leitung der medizinischen Sektion am Goetheanum, Freie Hochschule für Geisteswissenschaft, in Dornach/Schweiz inne. Im Herbst 2016 wurde Michaela Glöckler als Leiterin der medizinischen Sektion emeritiert. Sie schrieb das Vorwort des aktuellen Ratgebers "Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt".

Selbstverantwortung ist die Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts

Jeder einzelne, der selber nachdenken kann und will, ist für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts unabdingbar notwendig. Diese fundamentale Aussage stellte Dr. Michaela Glöckler, die bekannte Kinderärztin, die aus der Schweiz angereist war, an den Anfang ihres Vortrags „Gesundbleiben inmitten einer digitalen Welt“. Sie erläuterte, wie und warum die digitale Welt eine gesunde Entwicklung der Heranwachsenden behindert, welche Folgen das für die Selbstverantwortungsfähigkeit des einzelnen Menschen hat.

„Ich möchte heute Abend zum Nachdenken anregen“ sagte Dr. Glöckler. Nicht die Digitalisierungswelle, die das Bewusstsein der Menschen erreicht habe und zu beherrschen begänne, sei das Problem des 21. Jahrhunderts, sondern die Fähigkeit, damit sinnvoll umzugehen. Für die Entscheidung, welche Bewusstseinsleistungen man sich von den Maschinen abnehmen lassen könne, brauche es ein bestimmtes Alter: Mit 15 bis16 Jahren sei das Großhirn, das Frontalhirn, die Kontrollinstanz ausgereift. Nun könne selbstständig und unabhängig gedacht und Verantwortung übernommen werden.

Die Notwendigkeit der Erfahrung einer analogen Welt würde allerdings unter dem Druck der Digitalisierung nicht realisiert. Der Ratgeber „Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt“ sei deshalb eine äußerst wichtige Publikation. Dr. Klaus Scheler, der erfreulicherweise unter den Zuhörern sei, habe sie zusammen mit einer Gruppe von Fachleuten in jahrelanger Arbeit zusammengestellt.

Wichtig für das Lernen in der Schule sei es, ein Verständnis für die Technik des Computers zu erwerben, Programmiersprachen und Tastatur schreiben zu erlernen. „Aber eine Lernsoftware, die mich für dumm verkauft, und sozusagen mir sagt, worauf ich jetzt reagieren soll, die stimuliert natürlich mein Gehirn einfach falsch; nicht zur Selbständigkeit, sondern immer zum schönen Antworten auf die Fragen, die mir vorgegeben“. Sie plädierte für eine Pädagogik, die sich für die Kinder interessiere und die Eigeninteressen der Schüler mit den pädagogischen Interessen der Lehrenden in Einklang bringe. Eine Pädagogik der humanen Bildung.

Dr. Glöckler umriss, was unter einer gesunden Entwicklung zu verstehen und was am Kind selbst zu beobachten sei. Die erfahrene Kinderärztin skizzierte die je unterschiedlichen Lernbegabungen der einzelnen Lebensjahre vom 1 bis zum 18. Lebensjahr. Eine spannende Reise in die Lernpsychologie begann.

Erst im Alter von 16 Jahren entsteht "echte Medienmündigkeit"

Sie erläuterte, wie und welche Kompetenzen sich in einer analogen Welt bilden. Vernetzungen im Gehirn sind dabei unabdingbar. Sind es anfangs Körper, Raum und Zeit, rücken zunehmend Denken, Fühlen und Wollen in den Fokus der Entwicklung. „Mit drei Jahren, denken wir zum ersten Mal unser eigenes Ich, mit neun fühlen wir zum ersten Mal dieses Ich, mit 15/16 Jahren stehen wir zum ersten Mal an der Schwelle, wollen wir unser Ich bejahen oder nicht, wollen wir selbst verantwortlich sein.“ Das Bewusstsein für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit wächst. „Ich denke, ich fühle und ich will, ich bestimme. Ab da ist man auch in der Lage, selbst zu entscheiden, welche Lernsoftware hilft mir wirklich und wo bin ich nur ein williger Kunde einer riesigen Industrie. Da entsteht echte Medienmündigkeit.“ In den ersten neun Lebensjahren sei die Digitalisierung „ein Angriff auf das gesunde Entwicklungspotential in jedem Menschen“. Pseudobeschäftigung verhindere, „dass man seine altersentsprechende Begabung entwickeln kann und das bedeutet Defizite in der Gehirnreifung, vor allem auch in der sozialen Reifung“.

Glöckler verwies auf die Publikation von Christian Rittelmeyer: „Digitale Bildung – ein Widerspruch“ und zitiert aus den dort formulierten Führungskompetenzen für Manager: Offenheit, Neugier, Sensibilität für andere Kulturen, Aufrichtigkeit, disparate Meinungen auszuhalten und sie auf ihre Sinnhaftigkeit zu befragen. Eine Kultur des Vertrauens brauche es, soziale Kompetenz. Kindheit und Schule seien ein Riesenmarkt. „Doch wer bezahlt? Jedes einzelne Kind, dadurch dass es zu einem angepassten, etwas willensschwachen Staatsbürger erzogen worden ist.“

Zu den schlimmsten Schäden der digitalen Welt, die bisher in den Studien aufgezeigt wurde, gehören das Suchtpotential und der Empathieverlust zwischen 7 und 14, wenn da der Medienkonsum überhandnimmt. Das präge sich der Hirnreifung ein und sei sehr schwer behandelbar. Wer als Kind und Jugendlicher nicht gelernt habe, sich spontan eigene Lernziele zu setzen, wird sich als Erwachsener mit dem lebenslangen Lernen schwertun. Mit 17 Jahren sei die Selbstmordrate am höchsten; man fühle sich ohnmächtig, weil man die Welt doch nicht retten könne. Mit 18 Jahren sei diese Krisenzeit überwunden, eine neue Mutigkeit entstehe, die Gegenwart und Zukunft verbindet.

Damit das gelinge, müsse Schule sich verändern. Gerald Hüters Buch „Die Würde des Menschen“ sei eine Abrechnung mit dem heutigen Schulsystem, das dem Menschen das Bewusstsein seiner Würde systematisch abgewöhne durch die von klein auf angewendete Bewertung. Denn jedes Kind müsse entwicklungsgemäß mit sich selbst verglichen werden und nicht mit anderen und: Das 21. Jahrhundert brauche kreative, mutige Menschen und darauf sei unser Bildungssystem noch nicht eingerichtet.