49
ONLINE oder OFFLINE – Welche Schulen brauchen wir? - diagnose-media.org

ONLINE oder OFFLINE – Welche Schulen brauchen wir?

Vortrag an Goethe-Uni Frankfurt am Main

Plenum digitale – Vacuum mentale? Unter diesem Motto fand im Oktober 2018 in der Goethe-Universität Frankfurt am Main die 'Frankfurter (In-)Kompetenzkonferenz zur Digitalisierung' statt. In seinem Vortrag 'ONLINE oder OFFLINE – Welche Schulen brauchen wir?' beschreibt der ehemalige Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL) Josef Kraus den "kurzen Weg vom digital native zum digitalen Naivling".

ONLINE oder OFFLINE – Welche Schulen brauchen wir?

Plenum digitale – Vacuum mentale?
Frankfurter (In-)Kompetenzkonferenz zur Digitalisierung
Oktober 2018, Universität Frankfurt/Main

Der kurze Weg vom digital native zum digitalen Naivling

von Josef Kraus

Ich werde mich kritisch mit der Digitalisierung von Schule und Unterricht auseinandersetzen. Da ist es angebracht vorwegzuschicken, wie ich es selbst über 20 Jahre hinweg als Direktor an meiner eigenen Schule, einem Gymnasium, mit der Digitalisierung gehalten habe. Ich habe in diesen 20 Jahren an meiner Schule dafür gesorgt, dass sukzessive alle Unterrichtsräume (inkl. Musik- und Kunsträume) online gehen konnten und mit je einem Rechner und Beamer ausgestattet wurden; dass drei sehr große Computerräume eingerichtet wurden; dass für rund 800 Schüler ca. 150 Rechner zur Verfügung standen; dass wir vier Lehrer mit Lehrbefähigung Informatik bekamen.

Laptop- und Whiteboardklassen habe ich nicht mitgemacht. Mein 80-köpfiges Kollegium hat es hervorragend verstanden, sog. Kreidezeit und Computerzeit zu vereinen.

Und: Ich habe dafür gesorgt, dass meine Schule eine eigene Bibliothek mit einer Grundfläche von 700 m² und mit einem Buchbestand von 45.000 Bänden bekam und dass diese Bibliothek (die zugleich öffentliche Bibliothek wurde) jeden Tag von 7.30 bis 17.00 Uhr geöffnet ist.

Zum Thema

Im Jahr 1647 schrieb Georg Philipp Harsdörfer ein Lehrbuch mit dem Titel „Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst, ohne Behuf der lateinischen Sprache, in VI Stunden einzugießen“. Daraus ist – auf Kupferstichen sichtbar – der Nürnberger Trichter geworden. Die Suche nach einem solchen war damals und scheint heute erneut ein visionäres Anliegen. Zur Karikatur wird die Suche, wenn Bildungspolitik und Pädagogik nicht wahrhaben wollen, dass Lernen etwas Aktives ist, dass es mit Edutainment/Infotainment nicht getan ist und dass Lernen ohne personalen Bezug nicht geht. Die Flops, die man in den 1960er und 1970er Jahren mit dem Sprachlabor und mit programmiertem Lernen landete, sollten Beleg genug sein.

Nun ist ein neues pädagogisches Trichterstudium angesagt: das des digitalen Nürnberger Trichters. Der Hype der Digitalisierung soll bereits in der Grundschule, wenn nicht schon in der KiTa, beginnen. Jeder Bildungspolitiker und „Bildungsexperte“, der etwas auf sich hält, inszeniert sich als leidenschaft­licher Befürworter eines Lernens in Laptop- oder Smartphone-Klassen. Mich beschleicht dabei aber es das Gefühl, dass „moderne“ Bildungspolitik und Pädagogik damit eher vom eigenen Versagen der letzten Jahrzehnte ablenken will, nämlich ablenken will von einer plump-populistischen Gefälligkeits­pädagogik, mit der Bildungsqualität und Abiturquoten immer mehr in ein reziprokes Verhältnis gerieten.

Inszeniert wurde und wird der „digi“-Hype Ganze mit einer Melange aus Alarmismus, Klischees und Visionen, so als sei die Schule des Jahres 2017 immer noch die Schule des 19. Jahrhunderts oder gar der geologischen Epoche der „Kreidezeit“. Rezepte und alarmistische Schlagzeilen lauten dementsprechend: „Das wischende Klassenzimmer“; „Je mehr Tablets, desto höher die Qualität der Bildung“ (Samsung); „Schlaumäuse für 8.000 Kindergärten (!) verschenkt“ (Microsoft). Angesagt sind ferner: didaktische Hyperlinks, Edutainment, Homelearning, interaktive Lernumgebung, just-in-time-knowledge, knowledge-machines, instant-learning, learn-line, Lernanimation, Lern-Software, Multimedia-Learning, multimedialer Lernspaß, Online-learning, Telelearning, Teleteaching, virtuelles Klassenzimmer, usw. Und dann immer wieder, bis hinauf in Abiturprüfungen: PPP-Kompetenz! Power-Point-Präsentation-Kompetenz. Vulgo: betreutes Lesen!

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Ich kann solche Schlagzeilen und Wort-Hülsen nicht mehr hören und lesen. Und wenn mir dabei Namen unterkommen wie Bertelsmann Stiftung (Deutschlands oberste Bildungs-, Alarmismus- und Zahlenfetischismus-Gouvernante oder Vodafone-Stiftung, Telekom-Stiftung, Bitkom, Samsung ….. dann weiß ich, dass es hier um ein Milliardengeschäft geht.

Als ob jetzt der neue Adam geschaffen werden könne, ist selbst unter selbsternannten „Bildungs­experten“ der (Aber-)Glaube ausgebrochen, Multimedia eröffne „kaum absehbare Potentiale für die Steigerung der Effizienz des Lernens“. Ganz Kundige, darunter EU-Kommissare, glauben gar erkennen zu können, dass der Schulunterricht, der bislang „hinter verschlossenen Türen“ stattgefunden habe, nunmehr „über elektronische Fenster zur Außenwelt geöffnet“ werden könne. Schöne Visionen, die da heraufziehen – Visionen von einer Schule, in der der Computer für das Kognitive zuständig sein soll und in der sich Lehrer voll auf das Sozial- und Freizeit-Pädagogische konzentrieren könnten. Brave New School. Digitalisierung als unterrichtliches Anabolikum! Ein simpel animistisch-magisches Denken ist das (und damit eine der untersten Stufen der Intelligenzentwicklung laut Piaget!).

Bewegen müsste Pädagogen etwas ganz anderes, etwa die Frage, ob der junge, verkabelte oder W-lan-mäßig vernetzte Multimedia-Mensch ab einem gewissen Stadium des Informationsangebots bzw. -konsums überhaupt noch die Fähigkeit besitzt, zwischen faktischer Realität einerseits und virtueller, medialer Realität andererseits zu unterscheiden oder ob er nicht – weil Computer ja keine Welt außerhalb der eigenen kennen – bereits einer höchstselektiven „Windowisierung“ von Wirklichkeit ausgesetzt ist. Aldous Huxley jedenfalls hätte seine Freude an solch neuer Welt.

So gesehen, darf und sollte gerade Schule den Mythos der Informationsgesellschaft entzaubern. Von Wissensgesellschaft kann man ja wohl nicht sprechen, weil das ein Euphemismus wäre. Denn es gibt einen essenziellen Unterschied zwischen Information und Wissen. Kurz gesagt: Information wird erst durch Bildung, durch Reflexion zu Wissen veredelt.

Nicht zu Unrecht hat der gute alte Joseph Weizenbaum (1923 in Berlin geboren und dort 2008 verstorben) gerade der Pädagogik ins Stammbuch geschrieben: Die bloße Informationsverarbeitung erleichtere das Durchwursteln, und sie verhindere wirkliche Innovationen. Weizenbaum nennt das „Stagnovation". Es sei, so Weizenbaum weiter, informationstechnisch eine Fehleinschätzung, dass die Mattscheibe eine große Informationsdichte besitze. Jeder Waldspaziergang habe um Größenord­nungen mehr Potential als künstliche Zeichensysteme. Aber den meisten sei die Fähigkeit verloren­gegangen, sie zu erschließen, weil es einfacher sei, Technologie einzuschalten, als selbst zu denken.

Und ein Günther Anders (+1992) würde mit Blick auf die digitalen Medien eindringlich vor einer Ikonomanie, vor einer Bildsucht, warnen. Diese Warnung präzisiert Günther Andres in seiner Essaysammlung „Die Antiquiertheit des Menschen“ von 1956 bzw. 1980: Darin belegt er, dass die technische Intelligenz oft die Intelligenz ihrer Erzeuger übertrifft. Folge gerade beim Fernsehen (um wieviel mehr erst bei den digitalen Medien!): „Alles Wirkliche wird phantomhaft, alles Fiktive wird wirklich.“

Apropos „Ikonomanie“: Sie macht heutzutage vor dem eigenen Bild und zumal vor jungen Leuten nicht halt. Man „postet“ sich. Beta- und Prolo-Promis machen es vor: Jede mit Botox weggebügelte Hautfalte, jedes neue Tattoo und natürlich Tausende an Selfies landen bei Facebook, Instagram und in WhatsApp-Bildanhängen. Soziale Netzwerke nennt man sie. Was aber ist daran sozial, wenn es hier nur um Egophanie, um die Vergöttlichung des eigenen Egos, geht? Selbst zwölfjährige Mädchen tun es. Sie posten sich in Lolitapose und geben Persönlichstes preis. Wenn man, weil man als Schulleiter bei einer Internetrecherche zur eigenen Schule zufällig auf dergleichen stößt, ihre Mütter besorgt darauf anspricht, dass sich ihre Töchter damit zum Objekt von Pädosexuellen machen, erntet man durchaus die giftige Gegenrede: „Wie kommen Sie dazu, meiner Tochter nachzuschnüffeln!?“

Schade, dass es heutzutage keinen Joseph Weizenbaum und keinen Günther Anders mehr gibt.

All diese Skepsis ist kein Anlass zur Maschinenstürmerei. Aber eines scheint vonnöten: Schule sollte hauptsächlich bei einer Kommunikation bleiben, die unmittelbar, personal, sozial und damit human ist.

Ich möchte junge Menschen nicht zu Infokraten getrimmt sehen, die mit Häppchen-Information herrschen oder davon beherrscht werden, sondern die Kommunikation als etwas Menschliches und nicht als etwas Technisches erfahren und praktizieren. Immerhin könnte das Ergebnis multimedialer Vernetzung eine Art Kasper-Hauser-Syndrom sein. Damit wäre man bei einem Punkt angekommen, wo Information Kommunikation tötet, weil sich jeder nur noch das an Information sucht, was er braucht, und nur noch darüber redet.

Die Überwältigung der Wahrnehmung und des Denkens durch Informationsfluten sowie die medial bedingte Isolation könnte außerdem dazu führen, dass Kinder nichts mehr begreifen – „be-greifen“, wie es die Weisheit der Sprache zum Ausdruck bringt, weil sie nichts mehr zum Greifen haben. Schließlich ist ja alles auf dem Bildschirm immateriell.

Der klassische Unterricht im Lehrer-Schüler-Gespräch wird jedenfalls auch zukünftig im Zentrum schulischer Lernprozesse stehen (müssen).

Wofür also „Laptop statt Schulranzen“? Warum „Handys“ in den Schulen? Damit sich Schüler aus dem World Wide Web einen englischsprachigen Zeitungsartikel holen, um ihn sodann mit Hilfe des www-integrierten digitalen Wörterbuches zu übersetzen?

Hierher passt mein Plädoyer für das Buch! Das Buch wird in der Schule schon deshalb das zentrale Medium bleiben, weil es – weitaus mehr als Multimedia – Wissen ohne Verfallsdatum und ohne permanente Aufkündbarkeit per Mausklick anbietet.

Ansonsten sollte nach dem hoffentlich baldigen Abkühlen der überhitzt euphorischen Schulcomputer-Debatte zur Kenntnis genommen werden, dass das, was man an technisch-manuellen Internet-Fertigkeiten braucht, auch von einem Laien in wenigen Stunden erlernt werden kann. Außerdem sollte zur Kenntnis genommen werden, dass laut Untersuchung der Alfred-University in Albany (Kalifornien) internet-interaktive Studenten erheblich häufiger in Prüfungen scheitern als ihre Kollegen, die sich mehr auf das Studium als auf den PC konzentrieren.

Jedenfalls muss Schule aufpassen, dass sie nicht mit einer Sintflut an elektronisch aufbereiteten Informationen einem Tyrannen die Tür öffnet, der sie „vernetzt“, verstrickt, fesselt und ihrer Freiheiten beraubt. Das Buch wäre das geeignete Rettungsboot in dieser Sintflut.

Aber ansonsten? Es mag ja sein, dass junge Menschen heutzutage aufgrund neuer Informationstech­niken über mehr Informationen über die Welt verfügen (können) als Voltaire, Kant und Goethe zusammen. Aber dass wir heute klüger seien als unsere Väter, Großväter oder Urgroßväter, das ist doch sehr zu bezweifeln.

Und es mag ja auch sein, dass Hardware und Software unschlagbar sind im Suchen, Speichern, Rechnen. Doch es sind die Menschen, auch die jungen, die unschlagbar sind im Auswählen, im Bewerten und in der Interpretation.

Ein paar Anmerkungen zur Frage der Handy-Nutzung an Schulen:

Im Bayerischen Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) wurde schon vor Jahren in Artikel 56 klug vorausschauend festgehalten, dass Mobilfunktelefone und digitale Speichermedien in der Schule und auf dem Schulgelände auszuschalten sind. Es sei denn, sie werden zu Unterrichts­zwecken verwendet oder eine Lehrkraft gestattet Ausnahmen. Das ist gut so! Vor allem aber bewahrt dies die jungen Leute davor, auch noch in der Schule im Daddeln, Surfen, Cybermobbing, SMSen sowie in Facebook, Youtube, Twitter, Instagram und WhatsApp zu ersaufen.

Nein, die Heranwachsenden sollen nicht nur im Unterricht, sondern auch zum Stundenwechsel, in der Mittagspause und auf dem Pausenhof erfahren können, dass die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht die interessanteste, aufschlussreichste und sozialste ist. Die sogenannten sozialen Netzwerke mit ihren oft genug a-sozialen Auswüchsen sind es nicht. Der Mehrwert ist NULL! Die Franzosen haben es eingesehen! Dort hat das Parlament auf Betreiben von Emmanuel Macron – der das im Wahlkampf bereits angekündigt hatte – im Juli 2018 ein Handyverbot für die Schulen verabschiedet. Ich habe dazu in der Bayerischen Staatszeitung einen Beitrag geschrieben. Meine Diskussionsgegnerin war eine „progressive“ Lehrervertreterin. Die Abstimmung ist unter Beteiligung von mehreren tausend Lesern 80:20 für mein „CONTRA Handynutzung“ ausgegangen.

Zur Frage des Schreibens mit Hand oder Tastatur: Und der neueste Hype? Bereits in der Grund­schule sollen die Schüler mit der Tastatur schreiben anstatt mit dem Stift. Der sog. Pisa-Sieger Finnland exerziert es vor, indem er es seinen Grundschulen ab 2015 freigegeben hat, das Hand­schreiben oder das Tastaturschreiben zu lehren.

Beeindrucken sollten uns hier neuere Studien, die dem Handgeschriebenen Vorteile gegenüber dem Getippten attestieren. Pam Mueller und Daniel Oppenheimer von der Princton University in New Jersey haben zum Beispiel festgestellt, dass Studenten, die mit einem Stift mitschreiben, ein solideres Wissen erwerben und dass eine Mitschrift mit Stift auf Papier zusammenhängendes Wissen fördert, während reines Tippen auf einer Tastatur dazu verführt, nicht zu filtern.

Außerdem verzichtet man mit reiner Tastaturschrift auf die höchst individuelle, nicht zu unterschät­zende Note beim Geschriebenen. Nicht nur die seriöse Graphologie weiß das zu bestätigen, sondern auch der Alltag. Handschrift ist und bleibt Ausdruck von Individualität; ein Verzicht auf Handschrift, vor allem auf eine individuelle verbundene Handschrift, wäre ein Verlust an Individualität, auch ein Verlust an beweisbarer Individualität (siehe zum Beispiel ein handschriftliches Testament). cogito ergo sum – ich denke, also bin ich. Diese Sentenz könnte man erweitern: scribo ergo sum – ich schreibe, also bin ich.

Wie auch immer: Man könnte den Verlust all der Vorzüge des Schreibens abtun, indem man sagt: Das ist eben so in Zeiten der Digitalisierung. Damit macht man es sich aber zu leicht. Denn ein fortschrei­ten­der Verlust der Handschrift ist ein Stück Kulturbarbarei.

Mit dem Stift zu schreiben ist eine Sache der feinmotorischen Geschicklichkeit. Diese wurde früher beim Basteln oder mit Gesellschaftsspielen trainiert: beim Mensch-ärgere-Dich-nicht, bei Mühle, Halma, Dame und Mikado. All dies findet heute – wenn überhaupt – am Bildschirm statt. Das Kritzeln, das Malen, das Kneten, Papier-Schneide- und Faltarbeiten – all dieses Be-Greifen ist im ursprünglichen Sinn des Wortes aus der Mode gekommen, dabei wären gerade solche Spielereien die klugen Mütter und Tanten einer filigranen Handmotorik und damit des späteren Schreibens. Heute trainieren die jungen Leute eher – bis er glüht – nur den Daumen, nämlich beim Daddeln auf der Spielkonsole und beim SMS/WhatsApp-Schreiben.

Zurück zum Grundsätzlichen – zur Digitalisierung von Schule!

Die Fähigkeit zum Umgang mit neuen Informationstechniken gehört heute zu den Kulturtechniken. Ein zukunftstüchtiges Bildungssystem muss deshalb junge Menschen auf diese informationellen Möglich­keiten vorbereiten. Im Vordergrund der sog. informationstechnischen Grundbildung darf aber nicht das technische „Handling“ stehen. Dieses lernen Heranwachsende in kürzester Zeit, und sie bringen die dafür notwendigen „Handgriffe“ in der Regel „von draußen“ mit.

Insofern ist es sehr wohl sinnvoll, Mobiltelefone, i-Phones, i-Pads und i-Swatches aus der Schule zu verbannen. So zu tun, als komme man den jungen Leuten entgegen, wenn man all diese Geräte und deren Nutzung in der Schule zulasse oder gar in den Unterricht einbeziehe, ist Unfug, ist Anbiederung.

Es geht in der Schule um vis-a-vis-Kommunikation, und es hat schon seinen Sinn, wenn ein Schüler – grimmig, staunend, gelangweilt oder ungläubig – in das Gesicht eines Lehrers und nicht in einen Bildschirm schaut. Der Lehrer weiß darauf zu reagieren, der Computer nicht. Ein sog. elektronisches Klassenzimmer aber wäre ein verarmtes, steriles Klassenzimmer. In ihm gingen Information und Unterhaltung eine pädagogisch fragwürdige Allianz ein.

Es würde damit etwas gefördert, was Günther Anders lange vor der Digitalisierungswelle als das Dasein eines kollektiv vereinzelten MassenEremiten bezeichnet hatte. Dieser Massen-Eremit heißt so, weil er „solistisch“ vereinsamt. Weil er zum Beispiel als jugendlicher Fußgänger sogar beim Über­queren einer Straße so in sein Mäusekino vertieft ist, dass er von einer Straßenbahn überfahren wird. So geschehen in Augsburg, wo man jetzt begonnen hat, Bodenampeln einzubauen. Solistisch ist die Kommunikation geworden, sagt Günther Anders. „Solipsistisch“ könne man anfügen. G. Anders meinte damit das Fernsehgerät, das im Gegensatz zum Familientisch, der eine zentripetale Wirkung habe, zentrifugal wirke. Um wieviel mehr könnte Anders das für iPads und iPhons geltend machen! Falls es denn überhaupt noch ein gemeinsames Essen in einer sog. Familie gibt, so ist es keine Ausnahme, wenn neben Messer, Löffel und Gabel griffbereit mehrere iPhons liegen.

Es geht um kritische und asketische Medienmündigkeit!

Es kommt auf die Dosis an, zumal in einer Zeit, in der Heranwachsende täglich gerade eben noch 15 Minuten mit Lesen verbringen. Hier zu erziehen, das ist der Job von Schule. Sie darf nicht auch noch vormachen, wie „cool“ und „easy“ Laptop und Smartphone im Gegensatz zum Buch seien.

Gewiss gehört zur Medienerziehung die Schulung im Umgang mit dem Computer bzw. dem Internet. Dazu gehört eine Aufklärung über „Risk and Fun im Netz.“ Vor allem gehört dazu, dass die jungen Nutzer hinter die Bildschirmoberfläche schauen, zum Beispiel wer die Nutznießer der Computeri­sierung sind: die IT-Branche und die Sammler von persönlichen Daten wie Google, Amazon, Facebook usw. Es gehören zu dieser Art von Mündigkeit die Fähigkeit, sinnentnehmend zu lesen; die Fähigkeit, differenziert und verständlich zu schreiben; die Fähigkeit, zielführend Strategien bei der Suche nach Informationen einzusetzen und die Fähigkeit, beim Gefundenen Wichtiges von Unwichtigem sowie Sinnvolles von Schrott inkl. sexualisierter medialer Gewalt zu unterscheiden. Die Frage bleibt allerdings, wie vor allem Lese- und Schreibfertigkeiten in einem in der Stundentafel und in den (kanonischen) Inhalten drastisch reduzierten Deutschunterricht geschehen soll!

Vieles in der Nutzung neuer Informationstechniken ist – bei je nach Schulfach und Schulform unterschiedlicher Reichweite – ansonsten bereits selbstverständlich und Alltag in unseren Schulen: die Einspielung aktueller Aufnahmen eines Wettersatelliten in den Erdkundeunterricht, das Recherchieren im Internet zu literarischen oder historischen Themen, das Hereinholen der aktuellen Titelseite der N.Y. Times in den Englischunterricht, die Computer-Simulation eines Experiments im Chemieunterricht, das Recherchieren eines Kurses oder einer Klasse im Internet zur Vorbereitung einer Exkursion oder einer Studienfahrt usw.

Eine Komplettversorgung der Schulen, d.h. eines jeden einzelnen Schülers mit einem schulischen Computerarbeitsplatz, ist nicht notwendig und auch nicht erstrebenswert. Die Schulpolitik sollte sich hier nicht erneut auf ein Quotendenken (früher: Abiturientenquote; heute Computer-Schüler-Relation) einlassen: In einer hochtechnisierten berufsbildenden Schule mag es sinnvoll sein, dass jeder Schüler „seinen“ Computer hat. An allgemeinbildenden Schulen ist es aber kein Problem, wenn auf je zwanzig Schüler ein Rechner kommt. Auch in einem solchen Fall hieße das, dass jeder Schüler pro Woche mindestens zwei bis drei Stunden an einem Schulcomputer arbeiten kann. Das reicht.

Ein unkritischer, überdimensionierter Einsatz neuer Informationstechniken provoziert jedenfalls Kollateralschäden, die bislang unterschätzt wurden und die um so gravierender ausfallen, je früher dieser Einsatz in der Entwicklung der Kinder beginnt. Vor einem Einsatz des Computers im Kindergarten und in der Grundschule ist deshalb zu warnen.

Warum? Weil neue Medien, vor allem das Internet, eine sprunghafte Wahrnehmung und die Haltung fördern, Lernen könne ständig Spaß und Animation sein. Die Folgen sind Mängel im Konzentrations­vermögen und in der Ausdauerbereitschaft. Und weil das am Bildschirm übliche selektive Wahrnehmen bzw. Lesen gerade bei Kindern auf das Wahrnehmen und Lesen insgesamt übertragen zu werden droht.

Warnende Stimmen gab es sehr früh. Bereits 1999 meldete sich mit Clifford Stoll ein Pionier des Internets kritisch zu Wort. Sein 2001 auf deutsch erschienenes Buch „LogOut“ ist bereits im Untertitel Programm: „Warum Computer nichts im Klassenzimmer zu suchen haben“ (Original 1999: „High-Tech Heretic. Why Computers Don’t Belong in the Classroom“). In diesem Buch formuliert Clifford Stoll folgende Thesen: „Das Internet verwandelt unsere Kinder in Leute, die glauben, dass mit dem Zugang zu Informationen automatisch ein Verstehen einhergeht. Lernen ohne Mühe, Lernen als Videospiel: Es gibt damit nur ein Problem – alles ist Lüge! Meistens macht Lernen keinen Spaß. Lernen bedeutet Arbeit und Disziplin …

Diese Kollateralschäden sind umso gravierender, je früher dieser Einsatz beginnt. Aber darüber redet man nicht. Der 2011 verstorbene Apple-Mitbegründer Chef Steve Jobs und Microsoft-Gründer Bill Gates wussten allerdings sehr wohl, warum sie ihren Kindern i-Pads und Smartphones vorenthielten.

Überhaupt sollte als pädagogischer Grundsatz gelten: analog geht vor digital, produktiv geht vor rezeptiv.

Oder lesen wir Gerald Lemke/Ingo Leipner (in: „Die Lüge der digitalen Bildung. Warum unsere Kinder das Lernen verlernen“). Beide halten fest: Bildschirmtexte werden nur auszugsweise gelesen. Sie raten vom Computereinsatz vor dem 12. Lebensjahr ab.

Ausnahmsweise mal was Interessantes bekamen wir aus dem IFO-Institut und (Wößmann; Basis: TIMS-Studien) zu lesen: Der Einsatz von Computern im Unterricht bringt im Durchschnitt keine besseren Ergebnisse in Mathematik und in den Naturwissenschaften. Der Computereinsatz raubt wichtige Unterrichtszeit. Wörtlich: „Ein positiver Effekt auf das Erlernen der PISA-Basiskompetenzen ist nicht haltbar.“

Ja, sogar die OECD gab sich mal nachdenklich: „Wo Computer im Unterricht genutzt werden, sind ihre Auswirkungen auf die Leistung von Schülern bestenfalls gemischt.“ Länder, die viel in die Computerisierung des Unterrichts gesteckt haben (siehe die gut zwei Milliarden in Australien), schneiden bei Vergleichstests nicht besser ab.

An Beweisen für eine positive Wirkung digitalen Lernens fehlt es trotz intensivsten Bemühens der Digitaleuphoriker bis zum heutigen Tag. Um dennoch „Belege“ zu produzieren, nimmt man es mit der Wahrheit auch nicht immer so genau: Die äußerst computerfreundliche Studie „Bildung 2030“ des „Aktionsrates Bildung“ der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (VBW) weist im Mai 2017 aus, „dass Grundschülerinnen und Grundschüler in Deutschland, in deren Unterricht mindestens einmal wöchentlich Computer eingesetzt werden, in den Domänen Mathematik und Naturwissenschaften statistisch signifikant niedrigere (sic!) Kompetenzen aufweisen als jene Grundschulkinder, die seltener als einmal pro Woche Computer im Unterricht nutzten.“ Das Pikante daran ist: In einer vom VBW am 10. Mai 2017 verbreiteten Meldung war die Rede davon gewesen, dass „schon Grundschüler, die einmal pro Woche am Computer arbeiten, deutlich bessere (sic!) Kompetenzen im Bereich Mathematik und Naturwissenschaften“ hätten. Erst später folgte die Korrektur – klammheimlich. Die (Falsch-)Meldung aber war über „dpa“ millionenfach multipliziert. Eingefangen hat sie niemand mehr. Ein Schelm, der Schlechtes dabei denkt. Da war bei der verfälschten Fassung des Gutachtens wohl der Wunsch der Vater des Gedankens.

Und John Hattie, der Papst der Unterrichts- und Instruktionsforschung?

In Bezug auf digitale Medienangebote lässt sich aus seinen Metastudien festhalten, dass webbasiertes Lernen insgesamt eine relativ geringe Effektstärke aufweist (d≈0.18), ebenfalls relativ geringe Effekt­stärken werden von visuellen und auditiven Vermittlungsmethoden mithilfe digitaler Medien (z.B. Fernsehen, Film, Präsentationen oder reine Hörmedien) berichtet. Zum Vergleich die Effektstärken anderer Faktoren: 138 Faktoren hatte Hattie ausgemacht, kategorisiert in sechs Gruppen, die einen Effekt auf das Lernen ausüben: Lernende, Elternhaus, Schule, Curriculum, Lehrer und Unterricht. Die höchsten Effektstärken haben zwei Schüler-Faktoren: deren Selbsteinschätzung und deren kognitive Entwicklungsstufe. Was die Faktoren Lehrer und Unterricht anbelangt, so stellt Hattie fest: Hohe Effektstärken haben Klarheit der Lehrperson, Lehrer-Schülerbeziehung; geringe Effektstärken haben Freiarbeit und webbasiertes Lernen. Alles recht und schön. Und eigentlich in nichts neu!

Und noch etwas: Erst im Mai 2017, hat die Suchtbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler, eine Studie vorgestellt, in die 80 Kinderärzte ihre Erfahrungen mit dem Medienkonsum von 6.000 Kindern einbrachten. Eines der Ergebnisse lautet, dass jeder sechste Jugendliche sogar nach eigener Einschätzung Probleme hat, seinen digitalen Medienkonsum selbstbestimmt zu kontrollieren, und dass davon ein Teil therapiebedürftig ist. Ein anderes Ergebnis lautet, dass 90 Prozent der Eltern keinerlei Bedarf sehen, ihre Kinder über die Risiken der Mediennutzung aufzuklären.

Von der Finanzierung ganz zu schweigen! Gerald Lemke hat ausgerechnet, dass die Computerisierung unserer ca. 15.700 Grundschulen in Deutschland ein Marktvolumen von ca. 4,6 Milliarden brächte.

Zum Schluss: Noch einmal Medienmündigkeit!

Nach meinem Verständnis heißt Erziehung zur Medienmündigkeit Vertrautwerden mit den technischen Möglichkeiten, kritische Bewertung des Nutzens der Möglichkeiten (Dürfen wir alles, was wir können?) und (selbst)kritische Reflexion des Medienangebots

Außerdem müssen wir uns vor dem Glauben hüten, Jung und Alt bräuchten kein von EDV unabhän­giges Vorratswissen mehr. Wir sollten auch nicht glauben, es reiche aus zu wissen, wo man etwas – surfend – „herunterladen“ kann. Natürlich ist es wichtig zu wissen, wo man etwas findet. Deshalb ist es wichtiger Bestandteil schulischer Bildung, jungen Leuten zu demonstrieren, wo man was nachlesen kann.

Aber: Man stelle sich eine politische, eine naturwissenschaftliche oder eine ökonomische Live-Debatte vor, in der drei Debattenpartner zwar wissen, wo man was findet, in der diese drei aber sich ständig ins Internet einklinken, um sich Fakten und Argumente zu suchen.

Eine solche Download-Gesellschaft mit ihrem Häppchen- und Just-in-time-Wissen wäre eine Gesellschaft ohne Vorrat, eine Gesellschaft der Mini-Kommunikation – eine Gesellschaft auch, die nicht mehr zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden kann.

In der Bildung geht es zudem um Identität und Orientierung; solche liefert vor allem die Partizipation am kulturellen Gedächtnis. Man kann sich Identität nicht aus dem Netz „downloaden“. Identität kommt nur aus der „Er-Innerung“ des historisch-kulturellen Erbes. Eine Erziehung und Bildung ohne Tradition, eine Bildung und Erziehung der bloßen Informationsgefräßigkeit wären eine Verweigerung von Identität.

Für ein umfassendes, von EDV unabhängiges Vorratswissen gibt es sodann einen staatsbürgerlichen Grund: Wer nichts weiß, muss alles glauben! (Wer nichts weiß, muss alles googeln!) Ein solcher Mensch ohne Wissensfundus wäre das Lieblingsobjekt eines jeden Demagogen. Denn er wäre verführbar für jede Lüge und Halbwahrheit; er wäre anfällig für jedes Angstmachen und für jedes Propagieren von Vorurteilen. Deshalb ist der unwissende, der mit Halbwissen oder gar Lügen manipulierte, der indoktrinierte Mensch das Ziel totalitärer Systeme, die alles mögliche weismachen wollen und die alles vorgeben. Siehe ORWELL!

Bemühen wir Walther Zimmerli, den Philosophen, wenn er sagt: „Es irrt, wer meint, der Zugang zu Wissenstechnologien sei selbst schon Wissen. Das Kopieren von Büchern ist auch nicht identisch mit dem Lesen und Begreifen von deren Inhalt.“

Ansonsten gilt für den Computer und das Internet, was Georg Christoph Lichtenberg von den Büchern sagte: Es macht die Klugen klüger und die Dummen dümmer!

Immer wieder drängt sich mir jedenfalls der Verdacht auf, Computer und Internet seien das Problem, als dessen didaktische Lösung sie ausgegeben werden.

Meine Alternativen: Statt nur an die Förderung der Digitalisierung zu denken, sollte die Politik lieber in die Schulbibliotheken investieren und damit die Fähigkeit zum Lesen fördern. Außerdem erlaube ich mir abschließend die ketzerische Frage, ob nach dem Motto „Laptop statt Schulranzen“ nicht vielleicht einmal das Motto „Musikinstrument statt Laptop“ diskutabel wäre.

ONLINE oder OFFLINE – Welche Schulen brauchen wir? Meine Antwort lautet: Wir brauchen weniger online und mehr offline, damit die Digitalisierung nicht zur Lern- und Entwicklungsblockade für junge Menschen wird und damit unsere jungen Leute bei aller Euphorie um „digital natives“ nicht zu digitalen Naivlingen werden.

Oder, um mit Theodor Adorno zu sprechen: Schule braucht auch Schutz vor dem Andrängen der Außenwelt.

 

(Hervorhebungen im Fettdruck durch den Autor)

Weiterführende
Informationen

Artikel veröffentlicht: 25.10.2018
Autor: Josef Kraus, veröffentlicht mit seiner freundlichen Genehmigung.

Downloads

Publikationen

Schlagwörter
zum Artikel
Digitale Medien und Bildung