Artikel veröffentlicht: 02.12.2018
Autor: Anne Kraushaar, Abdruck des Interviews mit frdl. Genehmigung von Dr. H. Melzer und der Redaktion Luftballon.
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YouTube, Instagram, Snapchat, davon wird schon das ein oder andere dabei sein. Dass die Kinder dabei aber auch oft mit expliziten und aggressiven sexuellen Inhalten konfrontiert werden, wissen viele Eltern schon nicht mehr. Und auch nicht, was das mit ihrer sexuellen Entwicklung machen kann. Die Redaktion der Stuttgarter Elternzeitung Luftballon hat mit Frau Dr. Melzer über dieses Thema gesprochen.
Die Münchner Paar- und Sexualtherapeutin Dr. Heike Melzer beobachtet seit Jahren, wie sich die Sexualität in Zeiten von Internet und Smartphone verändert. In ihrem jetzt erschienenen Buch „Scharfstellung – Die neue sexuelle Revolution“ beschreibt sie, wie die ständige digitale Verfügbarkeit von Netzpornos, Dating-Apps und käuflichem Sex zu sexuellen Funktionsstörungen und Verhaltenssüchten führen kann. Auch die sexuelle Entwicklung Heranwachsender hat sie im Blick. Denn was macht es mit Kindern, wenn weit vor dem ersten Kuss Pornos in Kinderzimmern und auf Pausenhöfen laufen?
Frau Melzer, in Ihrem Buch beschreiben Sie, dass Mediziner und Psychologen derzeit alarmiert sind, da ihre Praxen voll sind mit jungen Männern, die über sexuelle Funktionsstörungen klagen. Was hat das Ihrer Meinung nach mit dem Internet und dem Smartphone zu tun?
Diese jungen Männer gehören zu der ersten Generation, die vor circa 10 Jahren als Heranwachsende ein Smartphone bekommen hat. Damit haben sie Sexualität digital gelernt: Sie hatten es nicht mehr nötig, aufwendig um einen Partner zu werben und dabei eventuell einen Korb zu kassieren. Stattdessen war Sexualität für sie immer und sofort verfügbar, mit einem Klick und in den wildesten Varianten. Auf diese Weise haben sich diese Männer auf ein derart hohes Niveau von Reizen eingependelt, dass ihr Körper jetzt nicht mehr auf den normalen, realen Partner reagiert, ganz nach dem Motto: Wer einmal Porsche fährt, fährt danach nicht mehr VW. Durch Internet und Smartphone kommen sexuelle Funktionsstörungen heute also in einem neuen Gewand daher: Junge Männer mit Erektionsstörungen, verzögertem oder ausbleibendem Orgasmus und partnerbezogener Lustlosigkeit nehmen rasant zu.
Sie schreiben, dass die heutige Jugend durch ihre Sozialisation mit Smartphones an einem weltweiten Feldversuch ohne Ethikkommission teilnimmt, deren Auswirkungen und Risiken uns erst so langsam bewusst werden. Gibt es auf der Ebene der Sexualität neben den genannten Funktionsstörungen noch andere Gefahren?
Allerdings. Das hohe Niveau von Reizen, das durch Pornos oder Dating-Apps erzielt wird, kann einen suchtartigen Effekt mit sich ziehen. Der kann mit stoffgebundenen Süchten von Kokain oder Alkohol verglichen werden, was die Toleranzentwicklung, Dosissteigerung und den Kontrollverlust angeht. Während aber diese stoffgebundenen Süchte à la „Kinder vom Bahnhof Zoo“ abnehmen, sehen wir heute eine rasante Zunahme von neuen Verhaltenssüchten: interaktive Onlinespiele, Social Media, Binge Watching von Serien, Shopping und Sexualität gehen mit einer starken Aktivierung unseres Belohnungszentrums einher.
Was bedeutet das für Jugendliche in dieser besonders verletzlichen Zeit ihrer Pubertät?
Wenn sie in dieser Zeit mit sexuell expliziten Inhalten konfrontiert werden, treffen diese Bilder auf Gehirne, die sich im Entwicklungsprozess befinden und gerade mit massiven Umbauten beschäftigt sind. Die Heranwachsenden verfügen nicht über ausreichende Selbststeuerung, sich diesen Bildern zu entziehen, sie wissen nicht, ob das, was sie da sehen, der Realität entspricht und wollen außerdem das machen, was ihre Peergroup macht. Das ist gefährlich. In zahlreichen Studien wurde nachgewiesen, dass Suchterkrankungen in der Jugend angelegt werden.
Wie verändern die ständig verfügbaren sexuellen Inhalte auf YouTube, WhatsApp etc. das sexuelle Heranreifen von Jugendlichen?
Pornografie begleitet Kinder heute durch die Pubertät. Der Erstkontakt mit ihr findet im Schnitt zu dem Zeitpunkt statt, wenn Kinder mit Smartphones ausgestattet werden, also in der Regel mit 11 Jahren. Im Alter von 14 Jahren haben über 9 von 10 Kindern bereits einschlägige Erfahrungen mit Pornografie gemacht. Vor allem Jungen schauen täglich Pornos, manchmal über Stunden. Sie finden es normal, wenn Entjungferungen im Internet angeboten oder Nacktfotos über Snapchat verschickt werden. Wenn es dann zum „ersten Mal“ kommt, ersetzen pornografische Skripte im Kopf die Fantasie und die Jugendlichen denken, so performen zu müssen wie in den Filmen. Oft erwarten die Jungs, dass Mädchen für Analsex zur Verfügung stehen, weil das eine gängige Praxis im Internet ist. Und die Mädchen sind verunsichert und wissen nicht, ob sie das jetzt zulassen müssen oder nicht. Pornos katapultieren also die Erwartungen an Sexualität in unrealistische Höhen und fördern den Performancedruck. Es gibt Gegenbewegungen wie „Make love, not porn“, die dieser verzerrten Wirklichkeit der Pornowelt reale Bilder entgegensetzen wollen. Aber die Medienpädagogik an den Schulen schläft.
Wenn Sexualität nur noch in einer digitalen Parallelwelt erlebt wird, schreiben Sie, geht außerdem das Lernen mit allen fünf Sinnen verschütt.
Kinder und Jugendliche sollten all ihre Sinne ausnutzen, gerade in der Zeit, in der sie dafür noch so empfänglich sind. Kurz: Es ist besser, selber eine Matschepampe zu machen, als Ernie und Bert im Fernsehen dabei zuzusehen. Das gilt auch für die sexuelle Entwicklung als Heranwachsende. Auch hier sind die Berührung, der Geruch und der Geschmack des anderen wichtig, denn dadurch erkennen wir, ob der Partner vom Genpool her zu uns passt. Das Werbeverhalten geht zwar mit der Gefahr einher, einen Korb zu bekommen, aber es hat eine interaktive Komponente. In der digitalen Welt ist alles anonym, ich kann mich als jemand anderes ausgeben, der ich bin und den Anderen nur auf dem Bildschirm sehen. Es fehlt also die Einbettung in eine verbindliche und liebevolle Beziehung, das Knistern beim Flirt, die Achterbahn der Gefühle und die Exklusivität und eben nicht Austauschbarkeit von Sex in einer Beziehung.
Was können Eltern tun, um ihre Kinder vor den sexuellen Inhalten im Netz zu schützen?
Eltern werden die Begegnung damit nicht vollständig verhindern können, da hilft die beste Tracking Software nichts und auch keine fest verabredeten Online-Zeiten. Spätestens auf dem Pausenhof zücken ihre Kinder dann doch wieder das Handy und schauen sich an, was die anderen so rumgeschickt haben. Und doch sind Eltern in der Pflicht, ihre Kinder über die Auswirkungen des Konsums von Gewalt und Pornografie aufzuklären, schließlich sind Kinder in der kompletten Phase bis zur Geschlechtsreife besonders schutzbedürftig.
Was ist der beste Schutz?
Am besten mit den Kindern über Sexualität reden, und zwar bevor sie ein Smartphone bekommen und in die Pubertät kommen. Danach will schließlich keiner mehr mit seinen Eltern über Masturbation sprechen. Doch in der Zeit davor sollten Eltern diese Themen immer wieder im Alltag einfließen lassen, ohne ein großes Gespräch daraus zu machen. Sie sollten ihnen erklären, dass das Schauen von Pornos zu Funktionsstörungen führen kann und man deshalb später vielleicht partnerschaftlichen Sex weniger genießen kann. Sie sollten ihnen aber auch klarmachen, dass sie nein sagen dürfen, wenn beim Sex von ihnen etwas erwartet wird, was sie nicht wollen. Eltern haben hier Verantwortung. Ihrem Kind ohne Vorbereitung ein Smartphone in die Hand zu drücken, wäre gleichbedeutend damit, ihm ein Glas Bier hinzustellen oder es alleine auf die Straße zu lassen, bevor es gelernt hat, nach rechts und links zu schauen.
Lesen Sie dazu Dr. med. Heike Melzer 's neues Buch >>> (siehe auch unter 'Publikationen').
Artikel veröffentlicht: 02.12.2018
Autor: Anne Kraushaar, Abdruck des Interviews mit frdl. Genehmigung von Dr. H. Melzer und der Redaktion Luftballon.
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